Als Antiquarin meide ich Bücher des Bertelsmann Leseringes grundsätzlich wie der Teufel das Weihwasser. Denn diese Bücher wurden in riesigen Auflagen unter die Leute gebracht und überschwemmen gerade jetzt, wo viele frühere Bertelsmann-Mitglieder sterben, den Markt für Gebrauchtbücher. Und lesen will die heute vergessenen Bestseller von damals auch keiner mehr.
Grundsätzlich bedeutet aber auch: es gibt Ausnahmen. Eine davon ist der Ratgeber „Die gute Ehe“ von Gertrud Oheim. Die andere sind alle „Sachromane“ von Karl Aloys Schenzinger. Die sind zwar recht preiswert (Verkaufspreis zwischen 2 und 5 Euro), verkaufen sich aber seltsamerweise sehr gut. Kaum katalogisiert, sind sie auch meist schon wieder weg.
Und darum möchte ich Ihnen Schenzingers Roman „Anilin“ in meiner Reihe „Bestseller von gestern“ heute ausführlicher vorstellen:
Erstmals erschienen ist das Buch 1936. Diese Vorkriegsauflage war sehr stark nationalsozialistisch geprägt. Die dann nach dem Zweiten Weltkrieg 1952 im Bertelsmann Lesering erschienene Ausgabe wurde sorgfältig durchgesehen und alle möglicherweise anstößigen Formulierungen neu gefaßt.
Ein Beispiel für die Umformulierung:
In der Ursprungsauflage heißt es „Der künstliche Werkstoff bedingt heute die Zukunft der deutschen Nation. Der künstliche Werkstoff ist zu einer deutschen Lebensfrage geworden.“ Dieses Zitat liest sich in der Bertelsmann-Ausgabe dann so: „Der künstliche Werkstoff bedingt heute die Zukunft der deutschen Wirtschaft.“
Ein Roman über die organische Chemie
Der Roman „Anilin“ stellt die Entwicklung der organischen Chemie dar. Chemiker, Unternehmer und ihre wegweisenden Entdeckungen werden beschrieben. Dabei werden Personen und Handlungsabläufe von Schenzinger im Dienst einer spannenden Handlung „künstlerisch interpretiert“. Aber schließlich ist es ja auch ein Roman und kein Sachbuch.
Besonders die deutschen Chemiker, deren Verdienste an der Entwicklung der organischen Chemie aber auch nicht zu leugnen sind, tragen den Hauptteil der Handlung: Friedlieb Ferdinand Runge, August Wilhelm von Hofmann, Kekulé, Schering, Robert Koch, Carl Duisberg und Heinrich von Brunck. Aber auch zwei britische Chemiker spielen eine Rolle: William Henry Perkin und Charles Mansfield.
Ob es heute noch gut lesbar und interessant ist, muß wohl jeder Leser für sich selbst entscheiden. Mir ist der Stil ein wenig zu angestaubt, auch wenn ich oft und gern alte Bücher lese. Auf jeden Fall gebührt „Anilin“ das Verdienst, eine der ersten populärwissenschaftlichen Darstellungen technischer Entwicklungen zu sein.
Im 3. Quartal (Juli) 1952 war „Anilin“ einer von zwei Hauptvorschlagsbänden des Bertelsmann-Leserings. Bertelsmann ließ eine Auflage von 100.000 Stück drucken! Zu diesem Zeitpunkt betrug die Gesamtauflage von „Anilin“ bereits 1,6 Millionen! Angepriessn wurde der Roman als „Einer der erfolgreichsten Romane, die je erschienen“. Bis 1973 folgten mindestens weitere sieben Auflagen in unbekannter Höhe.
Schenzinger blieb nach dem großen Erfolg von „Anilin“ dem Genre des populärwissenschaftlichen Romans treu: es folgten „Metall“ (1939), „Atom“ (1950), „Schnelldampfer“ (1951), „Bei I.G.-Farben“ (1953) und „99% Wasser“ (1956).
Bekannt wurde Karl Aloys Schenzinger aber bereits 1932 mit seinem Roman „Hitlerjunge Quex“, der die nationalsozialistische Jugendorganisation verherrlichte. Überhaupt war Schenzinger eine interessante oder auch etwas zwielichtige Persönlichkeit. Ich werde dem Autor demnächst einen ausführlichen Artikel widmen.
Weitere Titel von Karl Aloys Schenzinger: