Ich erinnere mich noch immer an den verheißungsvollen Geruch, der mir entgegenwehte, wenn ich die Tür zu dem kleinen Schreibwarenladen in meinem Dorf öffnete: es roch intensiv nach Papier, oder genauer gesagt nach Büchern. Denn bei „Wassermann“ (so hieß der Ladeninhaber) bedeckten gleich hinter dem Eingang riesige Holzregale mit hunderten von Büchern die Wände. Diese Bücher konnte man für eine kleine Gebühr für eine oder zwei Wochen ausleihen.

Der alte Herr Wassermann betrieb noch bis Ende der 1960er Jahre eine sogenannte Leihbücherei, die das ganze Spektrum der Trivialliteratur anbot: Liebes-, Adels-, Schloss-, Heimat- und Arztromane, Krimis, Western und Zukunftsromane. Schon damals war ich fasziniert von fernen Welten, Außerirdischen und fauchenden Raketen. Leider war das Angebot an Science Fiction (oder Zukunftsromanen, wie das damals noch hieß) sehr überschaubar und Neuzugänge waren selten. Trotzdem trug ich einen Teil meines Taschengeldes zu Wassermanns und las die Zukunftsromane alle mindestens dreimal.

Bert Hardy: Die unheimliche Macht (1953) - Ende der 1960er Jahre meine Lieblingslektüre
Bert Hardy: Die unheimliche Macht (1953) – Ende der 1960er Jahre waren Zukunftsromane meine Lieblingslektüre

Dann wechselte ich von der örtlichen Grundschule auf eine weiterführende Schule und meine Interessen wechselten. Außerdem hatte meine neue Schule eine gut sortierte Schülerbibliothek, die ich rege nutzte. Bei Wassermanns verschwanden die abgegriffenen Bände mit den oft schreiend bunten Einband-Bildern zusammen mit den wackeligen Holregalen zu der Zeit auch aus dem Laden. Bald danach gab es den Laden und noch einige Jahre später auch Herrn Wassermann nicht mehr.

Unserer dörflichen Leihbücherei meiner Kindheit ging es wie fast allen anderen: bis Mitte der 1970er Jahre brauchte sie keiner mehr. Das Fernsehen und der Siegeszug des preiswerten Taschenbuchs sorgten für den Niedergang der im ausgehenden 17. Jahrhundert aufkommenden Leihbüchereien.

Die Leihbücherei oder Leihbibliothek entstand während der Zeit der Aufklärung, um das wachsende Leseinteresse trotz hoher Buchpreise und mangelhafter Kaufkraft befriedigen zu helfen. Sie hatte eine große Bedeutung für alle Leshungrigen und wurde von allen Gesellschaftsschichten benutzt. Nach der Art des Publikums, der Größe und dem Bestand gab es verschiedene Bücherei-Typen. Meist waren ein reine Leihanstalten, die oft von Buchhandlungen oder als Einzelbetrieb geführt wurden.

„Nordmeyersche Leihbibliothek Hannover 1886“ von Zeichner und Reproduktionsgrafiker nicht angegeben, daher unbekannt - W. Kitzing / C. Wahl: Handbuch des Leihbibliothekswesens. Verlag Adolph Thallwitz, Taucha-Leipzig 1886. Lizenziert unter PD-alt-100 über Wikipedia - http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Nordmeyersche_Leihbibliothek_Hannover_1886.jpg#/media/File:Nordmeyersche_Leihbibliothek_Hannover_1886.jpg
„Nordmeyersche Leihbibliothek Hannover 1886“ – W. Kitzing u. C. Wahl: Handbuch des Leihbibliothekswesens, 1886.

Sogenannte „Winkelleihbüchereien“ (dazu gehörte meine Dorf-Leihbücherei) hatten oft nur wenige hundert Bücher in den Regalen, große Unternehmen bis zu mehreren Zehntausend. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich dann der „Novitäten-Lesezirkel“. Hier kamen Bücher verlagsfrisch in den Umlauf, wurden nicht als Leihbuch gekennzeichnet und antiquarisch verkauft, sobald sie erste Gebrauchsspuren aufwiesen.

Anfangs waren die Bestände der Leibbüchereien noch sehr breit gefächert. Ab 1815 konzentrierten sich besonders die großen Geschäfte dann mehr und mehr auf Unterhaltungsliteratur. Viele Romane wurden ausschließlich für Leihbüchereien in kleinen Auflagen und zu hohen Preisen gedruckt. Die meisten Umsätze wurden mit sogenannten „Brotartikeln“ gemacht: der Trivialliteratur, die gerade in Mode war. In der Goethezeit waren dies Familien-, Räuber-, Ritter- und Geisterromane.

Bert Andreas: Tragödie einer Ärztin (um 1955)
Bert Andreas: Tragödie einer Ärztin (um 1955)

1865 gab es in Deutschland 617 Leihbüchereien, 1880 waren es 1056. Dann gab es einen Einbruch, Zeitschriften und die preiswerten broschierten Klassikerbändchen sowie Romanzeitungen und Heftromane machten ihnen erfolgreich Konkurrenz. Literatur war jetzt für fast jeden Haushalt erschwinglich.

Am Ende der Weimarer Republik wurden die modernen, pfandlosen Leihbüchereien wieder recht erfolgreich. Und 1932 gab es mit bis zu 18.000 Buchverleihern so viel Konkurrenz untereinander, dass die Leihgebühren stark sanken. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Leihbüchereien in die Reichsschrifttumskammer integriert und aufgewertet. Die Zahl der Betriebe wurde beschränkt und Mindestleihgebühren festgelegt.

Kendall Cane: Die tote Stadt (um 1958)
Kendall Cane: Die tote Stadt (um 1958)

Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich die noch bestehenden oder wiedergegründeten Ausleihstellen (1960 waren das etwa 28.000) zum „Deutschen Leihbuchhändler-Verband“ (1960-1973) zusammen. Durch den Verleih speziell für Leihbüchereien hergestellte Trivialliteratur konnten sich einige Ausleihen noch bis Anfang der 1970er Jahre halten. Dann sorgten Fernsehen, Taschenbuch und die Buchclubs für ein endgültiges Ende dieser Geschäfte.

Die Bestände der Leihbüchereien landeten im Müll, auf Flohmärkten oder in Antiquariaten. Bücher aus Leihbüchereien sind meist auf den Vorsatzblättern mit dem Firmenstempel der Leihbücherei und der Leihgebühr beschriftet. Oft sind sie mehr schlecht als recht erhalten – kein Wunder, meist sind diese Bände ja berits durch zahlreiche Hände begeisterter Leser gegangen.

Buchverleih Carl Max Lüttich, Gütersloh
Buchverleih Carl Max Lüttich, Gütersloh

Trotzdem (oder vielleicht sogar gerade deshalb?) gibt es Sammler dieser „Literaturgattung“. Gerade die in geringer Auflage ausschließlich für Leihbüchereien gedruckten „Schmachtfetzen“ werden gesucht und können auch schon einmal 10-20 Euro kosten. Wenn ich beim Katalogisieren meiner Neuerwerbungen ein Leihbuch in Händen halte, dann erinnere ich mich wieder an den alten Herrn Wassermann, der mir meinen heißgeliebten Zukunftsroman aus dem Regal holte. Für mich wird ein E-Book nie ein Ersatz für ein „echtes“ Buch sein können.