Nach längerer Pause möchte ich Ihnen heute wieder einmal eine Ballade aus dem „Deutschen Balladenborn für jung und alt“ des Verlages von Fischer & Franke, Düsseldorf, aus dem Jahr 1904 vorstellen:

ballade_gewitter

Das Gewitter

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind;
Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl –
Wie wehen die Lüfte so schwül!

Das Kind spricht: »Morgen ist’s Feiertag!
Wie will ich spielen im grünen Hag,
Wie will ich springen durch Tal und Höhn,
Wie will ich pflücken viel Blumen schön;
Dem Anger, dem bin ich hold!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

Die Mutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag!
Da halten wir alle fröhlich Gelag‘,
Ich selber, ich rüste mein Feierkleid;
Das Leben, es hat auch Lust nach Leid,
Dann scheint die Sonne wie Gold!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

Großmutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag!
Großmutter hat keinen Feiertag.
Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,
Das Leben ist Sorg‘ und viel Arbeit;
Wohl dem, der tat, was er sollt‘!«
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?

Urahne spricht: »Morgen ist’s Feiertag!
Am liebsten morgen ich sterben mag:
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer,
Was tu‘ ich noch auf der Welt?« –
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?

Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
Es flammet die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl miteinander getroffen sind,
Vier Leben endet ein Schlag
Und morgen ist’s Feiertag.

Gustav Schwab